2. Tag: Ca´Tiepolo – Comacchio, 60 km

Abfahrt in Ca´Tiepolo

Um 8:45 Uhr bin ich startklar und radle in südlicher Richtung auf einer Pappel-Allee mit abgegrenztem Radweg bis Donzella. Von dort geht es dem Po di Gnocca entlang, zuerst auf einem asphaltierten Damm-Weg, später auf der parallel laufenden Straße bis nach Santa Giuglia. Der gesamte Landstrich ist eigentlich eine Insel, Isola della Donzella, die im Westen und Südwesten vom Po di Gnocca, im Norden vom Po di Venezia, im Osten von der Sacca degli Scardovari und im Südosten von der Adria umschlossen wird.

Ich befinde mich mitten im Po-Delta und fahre bei einer warmen Brise den Fluss entlang, der von Schilf und undurchdringbarem Dickicht gesäumt wird. Die Stille und die endlose Weite sind atemberaubend und meditativ. Kein Mensch weit und breit, nur eine Rennradfahrerin, die mich ehrgeizig von hinten überholt, als ich gerade versuche, während der Fahrt ein Bild mit parallelem Horizont zu schießen. Ich schlängle von rechts nach links und von links nach rechts (die Straße gehört mir) und wir stoßen fast zusammen…

Das Po-Delta – ein Paradies: Die Regionalregierung Venetiens hat entscheidend zur Entstehung dieses Paradieses beigetragen. Sie stellte das Gelände unter Naturschutz, als sie 1988 den Parco regionale del Delta del Po gründete. Die Unesco erklärte das Areal – mit 380 Quadratkilometern Europas größtes Feuchtgebiet – 1999 zum Welterbe und 2015 zum Biosphärenreservat. Doch trotz dieser Auszeichnungen blieb das Delta vom Massentourismus verschont. Der Landstrich zählt zu den letzten unentdeckten Flecken Italiens. Das mag, zumindest was die Italiener betrifft, nicht zuletzt daran liegen, dass er sich mit dem Auto kaum erkunden lässt. Viel geeigneter sind Rad, Kajak und Boot (https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2018-05/po-delta-italien-adria-naturschutz-fischfang).

Methanindustrie in der Po-Ebene: Ende der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts waren hier Methanvorkommen entdeckt und sofort abgebaut worden, ohne sich viele Gedanken über etwaige Umweltschäden zu machen. Die Folgen sollten nicht lange auf sich warten lassen. Der Untergrund senkte sich, immer mehr Salzwasser drang in das Delta und zerstörte schließlich ganze Reisfelder, eine der wichtigsten Ertragsquellen. Endgültig eingestellt wurde die Methangewinnung aber erst 1964. Bei einem Bootsausflug entlang des Po delle Tolle kann man einige dieser Werke, wie das in Bonelli, noch als Industrieruinen sehen (Zeit Online, Andrea Affaticati, 2018).

Quelle: https://www.podeltatourism.it/de/il-delta-del-po/po-delta
Quelle: https://www.italianways.com/enjoy-spring-in-the-po-delta-park/

Die verheerende Überschwemmung von 1951: Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Trockenlegung. Zuerst wurden Dampfmaschinen mit Schaufelrädern eingesetzt, später Pumpen. Im regionalen Museum in Ca’ Vendramin sind auch einige der ältesten Maschinen zu besichtigen. Doch allen Bemühungen zum Trotz scherte der Fluss immer wieder aus. Eine der verheerendsten Überschwemmungen erlebte man im Delta im November 1951, als die Dämme bei Occhiobello durchbrachen und sich über das ganze Gebiet eine Milliarde Kubikmeter Wasser ergossen. Hunderte von Menschen kamen infolge der Alluvione del Polesine um, Tausende wurden obdachlos. Und bis heute haftet dem Polesine der Ruf von Unglück an, was ein weiterer Grund dafür ist, weshalb das Delta zumindest bei den Italienern nicht zu den Top-Reisezielen gehört (https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2018-05/po-delta-italien-adria-naturschutz-fischfang).


Santa Giuglia

Santa Giuglia ist ein abgelegenes, verschlafenes Dörfchen, an dem man eigentlich vorbeifährt, weil es sich nicht sehr einladend rüberkommt. Ich möchte mal nachsehen, wer hier so wohnt und würde gerne von Einheimischen erfahren, wie man in einem solch abgelegenen Dorf, wo es kein Geschäft und nicht einmal eine Feuerwehr gibt, lebt.

Unter dem Vordach eines Zweifamilienhauses sitzen ein Mann und eine Frau höheren Alters und ich fahre grüßend bei ihnen vorbei. Danach denke ich mir, dass sie bestimmt nichts Anderes zu tun haben und vielleicht sogar gerne mit mir reden würden. Ich drehe um und fahre nochmal zu dem Haus, grüße ein zweites Mal freundlich und frage, ob sie eventuell Zeit haben für ein kurzes Gespräch, weil mich interessiert, wie die Leute hier so leben.

Ich erfahre von Guido, 87 und Novella, 92, Cousin und Cousine, die sich das Haus teilen, dass sie sehr verbunden mit dem Meer und der Fischerei sind. Guido war früher Fischer und hat sich sein Geld sehr hart erarbeitet. Leider sprechen die beiden einen starken Dialekt der Region Veneto, dass es mir schwerfällt sie zu verstehen. Dennoch war die Begegnung mit ihnen sehr herzlich und bereichernd.

Die rüstige 92-jährige Dame möchte mich noch mit dem Rad begleiten und zeigt mir bei der Gelegenheit stolz ihr ganzes Dorf, die Häuser all ihrer Verwandten in unmittelbarer Nachbarschaft, inklusive die Heilige Madonna und die Kirche von Santa Giuglia. Das Gotteshaus ist leider geschlossen, aber sie führt mich in den inoffiziellen Friedhof des Ortes. Die verstorbenen Verwandten sind an einem 5 Kilometer entfernten Ort begraben. Da diese Entfernung vor allem für ältere Menschen viel zu groß ist, hat die Kirchengemeinde einen Ersatzfriedhof neben dem Kircheneingang eingerichtet. Es handelt sich dabei um einen Raum mit einem bis zur Decke reichenden Regal mit zahlreichen Fächern, die Fotos der Verstorbenen und viele künstliche Blumensträuße beinhalten. Novella kennt jede zweite Person auf den Abbildungen und gibt jeder einen indirekten Kuss. Zuerst küsst sie ihre Finger und dann berührt sie mit den geküssten Fingern die jeweilige Person, nennt mir dabei den Namen und das Verwandtschaftsverhältnis.

Ich bin sehr dankbar für diese besondere Begegnung und hoffe, dass Guido und Novella gesund bleiben und noch lange gemeinsam vor ihrem Haus sitzen und sich unterhalten können.

Mit einer Zeitverzögerung von mindestens einer Stunde, die ich für die Erfahrung in Santa Giuglia gerne in Kauf nehme, fahre ich über eine wunderschöne Bootsbrücke über den Po di Gnocca. Diese Brücken sind typisch für die Gegend und bestehen aus zahlreichen Betonbooten, über die Bretter gelegt werden – fertig ist die Brücke!

Weiter geht die Fahrt durch ebene Landschaft mit weiten Feldern und Äckern, meist Soja oder Sonnenblumen oder einfach nur Brachland. In der Ferne fallen mir sechs riesige Industriehallen auf. Bei näherem Betrachten erkenne ich hunderte, wenn nicht sogar tausende Kühe, die in diesen Hallen gemästet und höchstwahrscheinlich danach zu Fleisch verarbeitet werden. Das riesige Fütterungsgerät fährt bei den Tieren vorbei und wirft geschnetzeltes Kraftfutter vor ihnen aus. Ein trauriger Anblick! Artengerechte Tierhaltung sieht anders aus… Kleinstrukturierte Bauernhöfe habe ich auf meinem Weg bisher keine gesehen. An solch enormen Tierfabriken bin ich jedoch schon öfters vorbeigefahren. Sollte ich dem Beispiel meiner Schwester Pia folgen und auch eine vegane Ernährungsweise wählen? Das wäre eigentlich der einzige Weg, um solch bedenklichen Entwicklungen entgegenzuwirken.


Goro

Eine weitere Bootsbrücke führt über den Po di Goro, der die Grenze zwischen den Regionen Venetien und Emiglia-Romagna darstellt. Von dort ist es nicht mehr weit bis Goro, einer Gemeinde in der Provinz Ferrara, deren Haupteinnahmequellen die Hochseefischerei und die Muschelzucht auf den Muschelbänken der Lagune von Goro, in denen hauptsächlich Venusmuscheln (Vongole) geerntet werden, sind. Am Hafen halte ich Ausschau nach Menschen, die ich zur Fischerei befragen könnte und stoße auf Igor, den Vongole-Fischer, der früher als Verkäufer in einem Kleidergeschäft gearbeitet hat und seit sechs Jahren als Fischer tätig ist. Er erzählt mir von seinem Tagesablauf, wie die Vongole Fischerei in Goro strukturiert ist und betont, dass er seinen jetzigen Beruf niemals mehr eintauschen möchte. Igor willigt sofort auf meine Frage, ob er für ein kurzes Gespräch Zeit hätte, ein und beantwortet mir meine Fragen sehr ausführlich und in einem gut verständlichen Italienisch.

Gespräch mit Igor über seine Arbeit als Vongole-Fischer

Zwischen Goro und Lido die Volano liegt ein wunderschöner Streckenabschnitt mit einem Schotterweg entlang der Lagune von Goro und dann durch den Wald von Mesola, der durch Zäune gesichert ist, damit die Wildtiere (angeblich Hirsche, Rehe und Füchse…) nicht herauslaufen können. Doppelte Gittertüren erinnern eher an ein Gepardengehege und ich muss schmunzeln, denn ich sichte kein einziges Tier weit und breit…


Lido di Volano

Eigentlich möchte ich in Lido di Volano, ein weitläufiger Ort mit wenig Infrastruktur, eine Mittagspause einlegen und wieder mal ins Meer springen. Stattdessen passiert mir das hier…

Mein erster Patschen…

Schuld an diesem Missgeschick, das mir übrigens noch nie zuvor passiert ist, ist eine Pflanze, die auf Italienisch „Cagatreppola“ genannt wird (deutsch: Stranddistel) Ich ziehe eine dieser stacheligen Früchte aus meinem Reifen. Eine deutsche Familie kommt genau in dem Moment, als die Luft heraus zischt an mir vorbei und erklärt mir, dass die meisten Radfahrer diese Gegend meiden, da die Dinger überall rumliegen würden und sogar Autoreifen beschädigen könnten.

Danke, liebe Birgitt, für die Information!!

Es hilft mir Gott sei Dank ein sehr geschwächter, krebskranker Italiener, der völlig erschöpft vom Strand kommt und mich zu sich heim begleitet, weil meine Pumpe nicht auf das Ventil passt. (Zu Hause in Österreich stellt sich heraus, dass ich den Aufsatz meiner Pumpe einfach hätte umdrehen müssen…) Vor dem Haus des netten, aber nicht gerade rad- und reparaturkundigen Herren schaffen wir es dann, den Schlauch auszutauschen. Wir benutzten seine Luftpumpe, scheitern allerdings an der Scheibenbremse meines Rades, da die Backen der Bremse zu sind und die Scheibe logischerweise nicht mehr hineinpasst.

Es beginnt zu tröpfeln und in der Ferne höre ich Donnergrollen. Mit dem Reifen in der Hand und das Rad halb tragend und halb schiebend, mache ich mich auf die Suche nach einem Radgeschäft. Leider Fehlanzeige – alle Geschäfte sind geschlossen, auch das letzte Lebensmittelgeschäft und das Lokal, wo ich eigentlich noch etwas essen möchte, lassen in dem Moment die Rollläden herunter, als ich auftauche… Es ist 13:30 Uhr und alles ist bis 15:30 Uhr geschlossen!

Es waschelt bereits, doch Gott sei Dank habe ich einen Unterstand! Meine Regenjacke liegt ja gut verstaut zu Hause… hahaha, typisch!! In meiner Not und etwas verzweifelt rufe ich Harald an… Er meint nur: „Wenn du dezidiert sagst ‚Ich bin ein Star, hol mich nach Haus‘, dann komme ich dich holen!“ Wir lachen und ich finde es so süß von ihm, dass er mich tatsächlich von überall abholen würde! Das nimmt einem die Unsicherheit, die ich aber eigentlich eh nicht verspüre… Mein Mann erklärt mir am Telefon, wie ich die Backen der Scheibenbremse mit einem Schlitzschraubenzieher auf bekomme und da ich kein Werkzeug dabei habe, gehe ich zum nächsten Haus und frage mal nach. Sofort bringt mir der nette junge Mann einen passenden Schraubenzieher und ich repariere mein Rad selbst. Welch Freude und Stolz, es alleine geschafft zu haben!!!!!

Es ist Gott sei Dank alles gut ausgegangen, doch ich lerne aus dem Vorfall Folgendes:

  1. Ich werde mir für die nächste Radreise eine Packliste schreiben!
  2. Regenjacke, Werkzeug, 2-3 Reserveschläuche, Reparaturschaum, 1. Hilfe-Set und Radlicht dürfen nicht fehlen!
  3. Ich muss in der Lage sein, sowohl meinen Vorder- als auch meinen Hinterreifen selbständig zu wechseln bzw. den Schlauch zu kleben!
  4. Ich sollte mich überhaupt bei der Reparatur meines Rades gut auskennen!

Lido delle Nazioni

Bei leichtem Nieselregen, aber angenehm warmer Temperatur (Gott sei Dank, denn die Regenjacke liegt ja zu Hause…) fahre ich in Richtung Lido delle Nazioni. Dort mache ich nun meine verspätete, aber wohlverdiente Mittagspause bei köstlicher Piadina mit Prosciutto… Danach hüpfe ich ins Meer und freue mich über das pinke Mikrofaserhandtuch, das meine Freundin Karin mir geschenkt hat. Toll, es trocknet so schnell und nimmt in den Packtaschen nicht viel Platz weg.


Comacchio

Von Lido delle Nazioni bis zu meinem heutigen Zielpunkt Comacchio sind es nur mehr neun Kilometer und ich nehme ganz entspannt den Weg über Lido di Pomposa und San Giuseppe. Zuerst erkunde ich die Stadt ein wenig mit dem Rad und schaue mich nach Unterkünften um. Ich bin beeindruckt von den vielen Kanälen und Brücken, lauschigen Plätzen und eindrucksvollen Kirchen und Monumenten.

Das mittelalterliche Hafenstädtchen Comacchio im südlichen Po-Delta ist vom Wasser geprägt. Neben der Fischerei in dem äußerst fischreichen Gebiet war Comacchio eine blühende Handelsstadt. Die zweistöckigen Häuser zwischen den Kanälen haben noch heute nach hinten einen kleinen Garten für Fischernetze und Geräte und Zugang zum Kanal. https://www.kulinariker.de/index.php/lifestyle/item/2050-eine-reise-am-po-delta

Nach kurzer Zeit finde ich eine echt coole Unterkunft, nämlich das kleine Hotel „Al ponticello“, wo mir die sympatische Cecilia ein ganz besonderes, genau für mich zugeschnittenes Zimmer übergibt…

Am Abend mache ich noch einen Spaziergang durch die Stadt und in einem netten Lokal am Kanal möchte ich das typische, lokale Gericht, nämlich gegrillten Aal mit Polenta ausprobieren. Ich bin leider nicht so begeistert davon, da er mir viel zu fett ist und nicht unbedingt meinen Geschmack trifft.

Der Aalfang in der Lagune von Comacchio

In „lavorieri“, einem komplizierten System aus hölzernen Fallen und Reusen, verfingen sich die Aale. „La marotta“, ein oben geschlossenes Holzboot mit Löchern im Rumpf, erlaubte den Transport der noch lebenden Fische unter Wasser von den „casoni“ zum Markt oder in die Konservenfabrik von Comacchio. Wie es dort zuging, zeigt der Film „La donna del fiume“ aus dem Jahr 1954. Sophia Loren, wahrlich keine Frau des Deltas, spielt in diesem Melodram dennoch eine Handlangerin in der Fischverarbeitung, und jenseits der zeitgemäß plakativen Präsentation ihrer Sinnlichkeit wird der Landstrich recht realistisch porträtiert. Man kann an den Filmszenen deshalb auch ablesen, wie wenig sich hier in all den Jahren verändert hat (Frankfurter Allgemeine, Volker Mehnert-Aktualisiert am 27.10.2019).

Das Geschäft mit dem Aal diente freilich nur als kümmerlicher Ersatz für ein ehrgeiziges, aber gescheitertes Vorhaben. Schon im frühen Mittelalter nämlich hatte sich Comacchio zum Ziel gesetzt, eine europäische Macht zu werden und den Venezianern beim Handel über die Adria und auf dem Po hinein ins Binnenland kräftig Konkurrenz zu machen. Auf dreizehn Inseln in der Lagune entstand ein Städtchen mit Kanälen, Brücken und ergiebigen Salinen, die von einer veritablen Flotte verteidigt wurden. Doch Venedig erkannte die Gefahr frühzeitig und wies das aufstrebende Städtchen mehrfach kriegerisch in die Schranken. Die venezianische Flotte hatte den Vorteil, dass sie die nördliche Windströmung der Bora im Rücken und außerdem leichteren Zugang zu den Wäldern im Norden hatte, um den Schiffbau zu forcieren. Venedig wurde Weltmacht, so dass englische Seekarten die Adria noch im siebzehnten Jahrhundert respektvoll als „Gulf of Venice“ auswiesen. Comacchio hingegen blieb als Provinznest zurück, zumal der Po mit seinen Sedimenten hier die Küstenlinie nach Osten verschob und auf diese Weise das einstige Hafenstädtchen immer weiter von der Adria entfernte (vgl. Frankfurter Allgemeine, Volker Mehnert-Aktualisiert am 27.10.2019).

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Eine Antwort

  1. Birgitt Bachinger sagt:

    Deine gemeine Pflanze Cagstrrppola heißt auf deutsch Stranddistel, lat. Eryngium maritimum und blüht von Juni bis September schön blau.

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