3. Tag: Comacchio – Ravenna, 48 km

Nach meinem obligatorischen Cappuccino verlasse ich das nette Hotel „Al ponticello“ und beschließe, das Museum der Manifattura dei Marinati, die historischen Aalfabrik, zu besuchen. Es bietet einen wirklich guten Einblick in die Geschichte der Aal-Verarbeitung in Comacchio. Vor allem die Kurzfilme im ersten Stock haben mich sehr berührt, weil sie das beschwerliche Leben der Fischer und FabriksarbeiterInnen veranschaulichen. Die Besichtigung der Aalfabrik hat mich dazu bewogen, den Film mit Sophia Loren „La Donna del Fiume – Die Frau vom Fluss“, der in Comacchio gedreht wurde, anzusehen. So mondän die Loren sogar beim Schilfschneiden im Sumpf erscheinen mag, so unerbittlich wird das harte Leben der Fischer und der Frauen, die den Reis des Deltas ernten, geschildert.

„Manifattura dei Marinati“: Die historische Aalfabrik, 1903 erbaut und in den 1990er-Jahren stillgelegt, ist seit 2005 wieder in Betrieb. Sie beherbergt ein Museum, das die alten Fang- und Verarbeitungsmethoden dokumentiert. Im Herbst wird dort marinierter Aal hergestellt, der in Dosen eingelegt und verkauft wird – ganz so wie früher (Die Presse, Print-Ausgabe, 16. 09. 2017).

Damit ist ein Stück Geschichte der Lagunenstadt vor dem Vergessen bewahrt, wird eine Tradition wiederbelebt, die für die Kultur und die Wirtschaft der Region über Jahrhunderte von größter Bedeutung war. Die Stadt Comacchio lebte seit jeher vom Aalfang und der Aalverarbeitung, Generationen von Leuten verbrachten ihr Leben in den Valli, arbeiteten hart und ausdauernd, widerstanden den widrigsten Umweltbedingungen, kämpften um ihr Recht an einem Teil des Fangs, mal als Fischer im Kampf mit den Aufsichtsbehörden, mal als „Fiocinini”, als Wilddiebe, die aus Verzweiflung heimlich fischten, um ihre hungernde Familie daheim zu ernähren. Das Museum der Aalfeuer erzählt von der Geschichte der Fischer der Valli von Comacchio, zeigt anhand von zwölf funktionierenden Feuerstellen, wie die Frauen von Comacchio noch vor ein paar Jahrzehnten die Spieße drehten, wie der Aal gekocht, verarbeitet und mariniert wurde, wie er den vorzüglichen Geschmack erhielt, der diesen sonderbaren Fisch zur Krönung jeder Tafel machte (https://www.ferraraterraeacqua.it/de/comacchio/das-territorium-entdecken/kunst-und-kultur/museen-und-galerien/die-manufaktur-der-marinaden).

Natürlich würde ich noch gerne das „Museo Delta Antico“ oder das Museum für moderne Kunst von Remo Brindisi besichtigen, aber leider habe ich nicht die Zeit dazu.

Auf dem Weg aus der Stadt fällt mir ein älterer Mann auf einem Rad mit Korb auf. Er hat bestimmt eine Menge zu erzählen! Ich vergesse die Zeit, nehme all meinen Mut zusammen, folge ihm und spreche ihn an, fange ihn sozusagen von seinem Rad runter… ;-)). Sein Name ist Gigi, er ist 78 und in Comacchio geboren. Gigi ist gerne bereit, sich mit mir zu unterhalten und schlägt vor, zum Dom zu radeln, von wo ich gerade gekommen bin… Er erzählt mir, dass Comacchio früher noch viel mehr Kanäle hatte, die im Laufe der Zeit trockengelegt wurden. Als Kinder haben sie in den Kanälen gefischt, durften aber nicht dabei erwischt werden.

Gigi möchte mir unbedingt noch die Valli di Comacchio, also die Lagune von Comacchio zeigen. Wir radeln im Stadtradtempo in Richtung Süden, ich hinter ihm her. Ich bin dankbar, dass er sich die Zeit für mich nimmt und dankbar für den Moment. Zufällig entspricht die Strecke genau meiner auf Komoot geplanten Route Richtung Ravenna und dafür bin ich auch dankbar. Wir fahren am Dammradweg (Schotterpiste) der Lagune entlang und Gigi erzählt mir, dass die Felder im Hinterland früher auch Valli, also Lagunen waren, wo reichlich gefischt wurde. Heute sind große Flächen trockengelegt und stehen der Landwirtschaft zur Verfügung.

Gigi führt mich zu einem Freund, Enrico, 73, der Fischer ist und angeblich jeden Tag mit dem Rad von Ferrara hierher zu seinem Pfahlbau-Häuschen kommt, das aus einfachen Materialien zusammengezimmert wurde und an der Lagune liegt. Wie viele andere Fischer in der Gegend, hat auch er ein großes quadratisches Netz, das mit einer Seilwinde ins Wasser gelassen wird. Darin verfangen sich viele Krebse, Meeräschen und Aquadellen (kleine Ährenfische), seine Hauptbeute, die er händisch von dem anderen Getier aussortieren muss. Die kleinen Meeräschen unterscheiden sich nur wenig von den Aquadellen, doch ist es verboten, sie unter einer Länge von ca. 12 cm zu fischen. Wird man dabei erwischt, erwartet einen eine saftige Strafe, laut Enrico 200€.

Gigi begleitet mich noch bis zum Schranken an der Abzweigung in Richtung Westen. Sooooo nett war die Begegnung mit ihm und ich denke mit Wehmut daran, dass ich ihn mit ziemlicher Sicherheit nie mehr in meinem Leben sehen werde… Ich trete mutterseelenalleine gefühlte 15 Kilometer (in Wirklichkeit nur 7…) auf einem Dammradweg dahin, der rechts und links von Wasser gesäumt ist. Zu meiner Rechten der Canale Fosse Foce und zur Linken das Valle di Comacchio, Wasservögel, der Wind und der Duft des Salzwassers. Einzig und allein eine Bisamratte, die meinen Weg kreuzt… (siehe Video)

Der Damm-Radweg mündet in die Via per Anita, eine zwar breite, aber schwach befahrene Straße, die mich in Richtung Süden führt. Hier beobachte ich zum ersten Mal Flamingos, die ihre Köpfe ins Wasser zum Lagunengrund strecken und dabei mit ihren Flossen an der Wasseroberfläche strampeln, damit sie nicht wieder nach hinten kippen. Es sieht lustig aus, wie sie sich abrackern, um Nahrung vom Meeresgrund zu ergattern.

Auf der Höhe der Ortschaft Anita zweige ich links ab in Richtung Ravenna, traghetto fiume Reno, bzw. Agriturismo Prato Pozzo, wo ich vorhabe, eine kleine Pause einzulegen. Da ich das Lokal nicht gleich finde, frage ich bei einem Bauernhof nach dem Weg. Der Jungbauer Gianpiero, 53 ist sehr nett und fragt mich, ob ich durstig bin und Wasser benötige und dann auch gleich, ob ich etwas essen möchte, denn seine Mama hätte gerade Tagliatelle al Ragú gekocht. Dieses Angebot kann ich nicht abschlagen, denn so eine Gelegenheit ergibt sich wahrscheinlich nicht so schnell wieder. Und schon sitze ich, überwältigt von der Gastfreundschaft, in der Küche von Mama Natalina, 73, die mir stolz ihr überdimensionales Küchenbrett samt Nudelholz und den damit ausgewalkten Tagliatelle-Teig präsentiert.

Das Gespräch mit den beiden war sehr interessant. Beeindruckend fand ich den Familienzusammenhalt, denn Gianpiero wohnt nur ca. 500 Meter von seinem Elternhaus entfernt und hilft, wenn er gebraucht wird, auch bei der Versorgung seines Vaters, der seit einem Schlaganfall ein Pflegefall ist. Gianpiero produziert Weintrauben, die anderswo zu Wein verarbeitet werden. Er bewirtschaftet mittlerweile sieben Hektar.

Mama Natalina erzählt von ihrer Kindheit in Comacchio, dem weiten Schulweg, den sie zu Fuß zurücklegen musste und der Tatsache, dass es damals fast ausschließlich Fisch zu essen gab. Ihr erstes Stück Fleisch konnte sie erst im jungen Erwachsenenalter genießen und kann sich heute noch lebhaft an diesen Moment erinnern. Ihre Eltern waren bitterarm und hatten oft nicht genug Holz, um das Haus oder zumindest einen Raum davon zu erwärmen. Natalina hatte nur ein einziges Paar Schuhe. Waren diese nass geworden, bedeutete dies, dass die Kälte nicht mehr aus ihrem Körper wich. Es musste traumatisierend für sie gewesen sein, denn noch heute überkommt sie manchmal die Panik und sie hat Angst, dass zu wenig Holz im Haus sei. Gianpiero beruhigt sie dann und versichert ihr, dass es immer genügend davon geben wird. Natalina zeigt mir Bücher mit Illustrationen von Comacchio, die ich mir gerne länger und genauer ansehen möchte, aber dafür ist leider keine Zeit…

Ich habe die beiden lange genug aufgehalten und verabschiede mich dankend auch beim Papa von Gianpiero (er nennt ihn liebevoll Babbo), der die ganze Zeit ziemlich schwer krank neben uns vor dem Fernseher gelegen ist. Bevor ich mich auf den Weg mache, schießen wir zur Erinnerung noch schnell ein Selbstauslösefoto. Als ich schon am Rad sitze, sehe ich Gianpiero am Traktor und mache noch ein Foto von ihm.

Die nächste Ortschaft Sant’Alberto liegt ca. drei Kilometer entfernt am anderen Flussufer des Reno. Um den Fluss überqueren zu können, nimmt man das Fährfloß, auf dem auch Autos transportiert werden. Ich zahle 1,-€ für die Überfahrt, der Fährmann bemerkt mein rosa Trikot und klärt mich auf, dass in Italien das rosa Trikot das Äquivalent zum gelben Trikot in Frankreich sei. Bis dato wusste ich das nicht…

Von Sant’Alberto bis Ravenna sind es nur mehr 15 Kilometer. Die Strecke verläuft auf der Via Sant’Alberto, die zunächst schwach befahren ist, je näher ich an Ravenna herankomme, desto dichter wird der Verkehr jedoch, aber Gott sei Dank nur in der Gegenrichtung. Ich habe Glück und komme unversehrt und mit wenigen Autos und LKWs, die mich überholen in Ravenna an. Bei der ersten Gelegenheit verlasse ich die Via Sant’Alberto und durchstreife Wohngebiete und kleine Parks und komme durch Zufall bei der ersten Sehenswürdigkeit Ravennas vorbei, nämlich dem Mausoleum des Theoderich, Grablege des ostgotischen Königs, genannt der Große.

Das Mausoleum des Theoderich wurde im Jahr 520 auf Anweisung Theoderichs als eigenes Grabmal errichtet. Das Baudenkmal besteht aus zwei zehneckigen Geschossen aus istrischem Kalkstein. Sein Dach ist ein Monolith, das von zwölf eingravierten Krümmungen mit den Namen von acht Aposteln und vier Evangelisten gekrönt ist und einen Durchmesser von 10.76m und eine Höhe von 3.09m hat. Nach neuen Berechnungen wiegt es 230 Tonnen (turismo.ra.it).

Mausoleum des Theoderich in Ravenna

Leider bin ich zu spät dran, um es von innen besichtigen zu können… Ich fahre weiter zum Bahnhof, um mein Zugticket für den nächsten Tag in Richtung Heimat zu lösen. Das Bahnhofsviertel ist voll mit Immigranten aus Afrika, vermute ich… Ich kaufe eine Karte bis Venedig-Mestre mit einem Umstieg in Ferrara, jeweils Regionalzüge, wo die Mitnahme von Fahrrädern kein Problem darstellt. Ab Venedig gäbe es dann einen Night-Jet, wo die Mitnahme von Fahrrädern auch erlaubt sei, man müsse das Ticket allerdings in Venedig lösen, versichert mir der Schalterbeamte.

Guter Dinge, doch leicht eingeschüchtert von der heruntergekommenen Gegend um den Bahnhof radle ich in Richtung Centro Storico, in der Hoffnung, dass sich das Stadtbild ändern würde. Obwohl die Palazzi imposanter, die Straßen gepflastert und enger und der Ausländeranteil geringer wird, ist mein erster Eindruck vom Stadtzentrum nicht übermäßig berauschend. Wahrscheinlich bin ich in den falschen Gassen unterwegs… Außerdem empfinde ich den Lärm und die Hektik der Stadt nach dem meditativen Radeln durch das Po-Delta als fürchterlich stressig und ich beschließe noch 20 Kilometer weiter ans Meer nach Lido die Classe zu fahren.

Als ich während der Fahrt auf meinem Handy herum wische, um den richtigen Weg raus aus der Stadt zu finden, überholt mich ein älterer Herr, ebenfalls mit dem Rad unterwegs und fragt:“Ti sei persa?“, was soviel bedeutet wie: „Hast du dich verirrt?“ Ich erzähle ihm von meinem Vorhaben ans Meer zu fahren und den Grund dafür. Er bietet sich sofort als „Guida“, also Fremdenführer an und möchte mir die schönsten Orte der Stadt zeigen. Weil ich spontan und zur Zeit fremden Menschen gegenüber ziemlich aufgeschlossen und offen bin, folge ich Mario, 72, schmunzelnd und glücklich über die schönen Zufälle, die mich auf meiner Reise immer wieder überraschen.

Bei Mario habe ich ein gutes Gefühl, er ist bereits stolzer Opa und in Pension. Für ihn ist es anscheinend eine schöne Abwechslung einer netten „Ciclista“ (Radlerin) die Stadt zu zeigen. Mit dem Rad geht alles viel schneller und ich genieße die ungewöhnliche Führung, obwohl ich nach dem anstrengenden Tag schon ziemlich müde bin. Wir schauen uns die Basilika di San Vitale, sowie das Mausoleo di Galla Placidia von außen und die Basilika di San Francesco von innen an. Letzteres absolviere ich alleine während Mario auf mein Rad und all mein Hab und Gut aufpasst. Wie gesagt, ich habe ein gutes Gefühl bei Mario! Zuletzt zeigt er mir noch die Grabstätte von Dante Alighieri, die für die bevorstehenden „700 Jahre Dante Alighieri“-Jubiläumsfeierlichkeiten renoviert wird und daher leider verhüllt ist.

Mario führt mich schließlich zu einer für Ravenna sehr günstigen Unterkunft, dem Hotel „Davide“. Wir verabreden uns für den nächsten Tag, denn Mario möchte mir noch weitere Sehenswürdigkeiten zeigen. Der Rezeptionist ist sehr freundlich und lässt mich das Rad im Keller abstellen. Das Zimmer ist klein, aber zweckmäßig mit Fernseher und Klimaanlage.

Den Abend verbringe ich im belebten Centro Storico von Ravenna bei einem köstlichen Abendessen in einem Restaurant gleich neben dem Torre Civica, dem schiefen Turm von Ravenna. Danach schlendere ich durch die Stadt und bin eigentlich schon am Weg ins Hotel. Da spricht mich ein netter Mann an, der meint, mein Zimmernachbar vom Hotel möchte mich zu einem Bier einladen. Sie sitzen zu dritt am anderen Ende der Piazza Andrea Costa und würden sich freuen, wenn ich zu ihnen stoßen würde. Ich brauche fünf Sekunden Überlegungszeit, in denen mir alle möglichen Folgen einer überhasteten, unüberlegten Zusage durch den Kopf gehen. Mein letzter Gedanke ist: „Der Abend ist lau und herrlich, den muss man genießen!“ und ich begebe mich zum Tisch der drei sympathischen Freunde Fabio (mein Zimmernachbar im Hotel), Alberto und Beppe (ebenso Gast im Hotel Diana). Wir plaudern entspannt und haben wirklich Spaß miteinander. Nach dem Bier wird uns von Alberto, der als einziger aus Ravenna kommt, die Basilika San Vitale bei Nacht gezeigt. Außerdem schenkt mir Alberto ein Notfallspfeiferl, das ich bei meinen zukünftigen Radreisen, die ich alleine unternehmen werde, immer dabei haben sollte. „Nicht alle Menschen sind so vertrauenswürdig und nett wie wir“, meint er.

Ganz nach italienischer Art verabschieden wir uns nach dem nächtlichen Spaziergang durch Ravenna mit tausenden ciao, ciao, ciao, ciao, ciao und ich falle erschöpft, todmüde, aber glücklich in mein mit Leintüchern bezogenes Bett…

BUONA NOTTE!!

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