2. Tag: Anreise Udine – Tarent; Tarent – Massafra, 20 km, 170 Hm

Die Zugreise von Udine nach Tarent verläuft reibungslos und auch die Umstiege in Venedig und Bologna stellen kein Problem dar. Ein bisschen anstrengend ist die Fahrzeit von 13 Stunden, aber mit Lesen, Schlafen, Musik hören, Handy süchteln, Plaudern usw. ist es nicht so schlimm… Das Einzige, das fehlt, ist ein Pullover oder eine Jacke, da die Züge stark klimatisiert sind.

Um 18:30 kommen wir pünktlich in Tarent an und freuen uns voll, dass wir endlich da sind und alles gut gegangen ist. Unsere größte Sorge war, dass die Züge Verspätung haben könnten und wir einen der Anschlusszüge verpassen würden. Noch voller Tatendrang ändern wir unser Programm und beschließen noch heute nach Massafra zu fahren, damit der Weg nach Matera morgen nicht ganz so strapaziös wird.

Wer zum ersten Mal in Tarent ist und vom Bahnhof in Richtung Norden fährt, wird aufgrund des desolaten Baubestands erschrocken sein und sich eventuell sogar fürchten, denn die Gegend ist doch ein wenig abschreckend. Wir kennen die Lage schon vom letzten Mal und radeln mutig durch die trostlosen Straßen. Ich bin so angespannt, dass ich es nicht einmal in Erwägung ziehe Fotos zu schießen. Die Via Napoli geht bald in die Via Orsini über, wo auch das größte Stahlwerk Europas (ILVA) liegt, das durch extreme Umweltverschmutzung und starke gesundheitliche Beeinträchtigung (übermäßig hohe Rate von Krebsfällen, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen) der Bevölkerung sogar ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geworden ist (https://www.deutschlandfunk.de/das-groesste-stahlwerk-europas-in-taranto-arbeitgeber-und-100.html).

Laut eines Berichts von Deutschlandfunk sind die Gebäude und der Friedhof im angrenzenden Stadtteil Tamburi und Paolo VI mit einer rötlichen Staubschicht belegt, die nur schwer zu entfernen ist (https://www.deutschlandfunk.de/das-groesste-stahlwerk-europas-in-taranto-arbeitgeber-und-100.html). Bei Wind aus Nord-West wird ein sog. „Wind-Day“ ausgerufen, an dem die Bewohner sich vor der drohenden Schadstoffbelastung durch geringe körperliche Betätigung bzw. Schließen der Fester schützen sollen (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/europas-groesstes-stahlwerk-in-italien-ein-schlamassel-aus-stahl-18616959.html).

Das Stahlwerk Tarent bzw. Ilva genannt, ist das größte Stahlwerk Europas. Gegründet wurde das Werk im Jahr 1965 als Staatsbetrieb. Die Stahlproduktion im Werk gilt jedoch als einer der größten Umweltverschmutzer Italiens, deshalb ist in der Umgebung des Stahlwerks die Krebsrate signifikant höher als im Rest des Landes. Im Jahr 2019 hatte das Werk 8200 Arbeiter und 150 Zulieferbetriebe mit weiteren 6000 Arbeitern. In Hochzeiten waren etwa 20.000 Angestellte beschäftigt. 1995 wurde das Werk privatisiert und 2017 übernahm es der Luxemburger Stahlkonzern ArcelorMittal, jedoch wollte der Investor zwei Jahre später wieder aussteigen, weil die Strafimmunität entzogen wurde, welche 2015 der italienische Staat ausgesprochen hatte. Seit 2012 ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen der Umweltverschmutzung in Bezug auf das Stahlwerk. 2016 sind die Anklagen von 47 Personen vor Gericht gelandet. 2021 sprach das Gericht verschiedene Manager, den Eigentümer und Politiker für schuldig und es wurden Haftstrafen verhängt. So sollen die Brüder Fabio Riva und Nicola Riva, als ehemalige Eigentümer, 22 beziehungsweise 20 Jahre Haft verbüssen. Nichi Vendola als ehemaliger Regionalpräsident Apuliens erhielt eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren. Insgesamt hat etwa die Hälfte der Angeklagten Haftstrafen erhalten. Das Urteil ist nicht rechtskräftig und die Angeklagten beabsichtigten, sich an die höhere Instanz zu wenden (https://de.wikipedia.org/wiki/Stahlwerk_Taranto).

Nach dem Stahlwerk biegen wir in Richtung Westen ab und fahren dann etwa einen Kilometer auf der Strada Statale SS 7 Via Appia. Dort benützen wir den komfortablen Pannenstreifen. Als Radfahrer freut man sich eben über solche Kleinigkeiten… Die Gegend ist immer noch heruntergekommen und verlassen, wie dieses geplante Hotel beweist. Solche nie fertiggestellten Gebäudekomplexe sind in Süditalien keine Seltenheit und stehen für die Verschwendung von Steuergeldern (wenn es sich um öffentliche Bauten handelt) und verschandeln in jedem Fall einst schöne Landschaften. Die Hintergründe für diese Ungetüme sind vielfältig. Einerseits sind es Korruption, Mafia und Misswirtschaft, andererseits politische Spiele oder einfach nur Planungsfehler (https://www.sueddeutsche.de/geld/bauruinen-die-unvollendeten-1.4577991).

Nach der Überquerung des ausgetrockneten Bachbetts Cala Gennarini biegen wir rechts ab und radeln über unsere erste sanfte Steigung zu einer eher verkommenen Masseria, deren Gelände leider von Müllablagerungen gesäumt ist. Einst war sie bestimmt Wohnsitz eines wohlhabenden Großgrundbesitzers, der auf seine Ländereien im Tal und bis ans Meer blicken konnte.

Einen der genialsten Sonnenuntergänge erleben wir südöstlich von Massafra, auf der einsamen Via Santa Caterina. Wie bei jedem Sonnenauf- bzw. Sonnenuntergang denke ich an meine Liebsten – Gianni und Marie….

Ein schöner Radweg kündigt das Stadtgebiet von Massafra an. Bei der Kreuzung Via Santa Caterina und Via Enrico Mastrobuono gibt es einen Trinkbrunnen und wir füllen unsere Flaschen auf, ganz so, wie es auch die Einheimischen tun.

In Massafra angekommen, gewinnen wir einen kleinen Einblick in den umliegenden Parco Nazionale Regionale delle Gravine, eine geschützte Landschaftsform, die von Karstgebilden, wie Schluchten und Höhlen geprägt ist. Diese Höhlen wurden schon im Neolithikum (Jungsteinzeit) vor etwa 12 000 Jahren, aber auch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bewohnt und zeichneten sich durch ein ausgeklügeltes Zisternensystem aus, das den Bewohnern das Überleben sicherte und ein Sesshaftwerden ermöglichte (https://luoghi.italianbotanicalheritage.com/parco-naturale-terra-delle-gravine/).

Wir erreichen Massafra knapp vor Einbruch der Dunkelheit und bewundern die Kathedrale San Lorenzo mitsamt typisch süditalienischer Beleuchtung, genannt „Luminaria“, bevor wir uns auf die Suche nach einem Quartier machen. Es ist bereits 21:00!!

Nach einer kleinen Irrfahrt und unnötiger Auseinandersetzung, weil ich Harald kurz verloren habe, erreichen wir gegen 21:30 ziemlich aufgelöst die gut gewählte Unterkunft „Sotto La Volta“. Es ist ein liebevoll restauriertes höhlenartiges Appartement mit einem schönen Gewölbe. Mino und seine Frau Daria empfangen uns überfreundlich, bieten uns Eistee an und schwärmen uns von den Sehenswürdigkeiten der Umgebung vor. Außerdem macht uns Mino mit dem Pilgerweg „Cammino Materano“ vertraut und stellt uns für 10 Euro ein sogenanntes „Credenziale“ aus, also ein Pilgerbüchlein, in das wir auch schon unsere ersten beiden Stempel bekommen.

Harald ist von den Strapazen des heutigen Tages erledigt und schläft schon bald ein, während ich mich noch in Massafra umsehe und in das von Mino empfohlene Pilger-Restaurant „Zia Riri“ gehe. Dort gibt es ein äußerst köstliches Pilger-Menü (Primo und Secondo) um 22 Euro. Dafür, dass ich erst um 22:30 ins Lokal komme, ist es noch sehr gut besucht und ich bin nicht die Einzige, die um diese Zeit noch eine Mahlzeit zu sich nimmt. Auch eine Großfamilie mit kleinen Kindern ist noch da und feiert die goldene Hochzeit der Großeltern. Wir befinden uns eben in Süditalien, wo erst um diese Zeit die Luft angenehm lau wird (von kühl kann man hier im Juli leider nie sprechen…).

Um 1:00 Uhr bin dann auch ich richtig erschöpft und sinke in mein Bett…

BUONA NOTTE!!!

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