An diesem Tag fahre ich effektiv nur 41 Kilometer mit dem Rad und die restlichen 21 verbringe ich im Zug. Warum, werde ich Euch berichten… Erst jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, dass genau jener Abschnitt, den ich mit dem Zug zurückgelegt habe, einer der bisher schönsten, wenn nicht sogar DER schönste ist. Ich empfehle daher, die gesamte Strecke mit dem Rad zu fahren! Ihr werdet überwältigt sein!!
Pescara
Ich starte früh los und streife zunächst durch den Corso Umberto I, wo ich noch ein paar Eindrücke von der Stadt sammle…





Pescara ist, wie schon erwähnt, auf den ersten Blick keine reizvolle Stadt. Bestimmt fände man auch hier, wenn man suchen würde, nette Plätzchen. Ich möchte aber nicht unnötig Zeit verschwenden und beschließe schnurstracks Richtung Meer zu radeln, wo ich mich, dem Promenadenradweg folgend, südwärts fortbewege.
Eine der wohl größten Investitionen in den Ausbau der „Ciclovia Adriatica“ in den Abruzzen stellt die geschwungene Radfahrer- und Fußgängerbrücke über den Fluss Pescara dar. Die Brücke ist zweigeteilt und eine architektonische Meisterleistung. Die Strecke für die Radfahrer kann in beiden Richtungen befahren werden und ist mit einer Linie unterbrochen. Die Fußgängerbrücke ist etwas schmäler und mit einem blauen Belag versehen. Es ist ein Genuss hier drüberzufahren!!







Lido Urania
Ein paar Kilometer südlich von Pescara hab ich Lust auf Kaffee und Frühstück und werde bei einem der vielen „Stabilimenti“ (Seebädern) aufmerksam. „Lido Urania“ – Die Holzmöbel, der nette Eingang und die sanfte Jazz-Musik erregen meine Aufmerksamkeit und ziehen mich magisch an. Als ich meinen Cappuccino, das Marmeladen-Brioche (Kipferl) und den Ausblick aufs Meer genießen möchte, zeigt der braungebrannte Salvataggio (Rettungsschwimmer) dem Inhaber des Lokals auf seinem Handy ein Video mit lauter, blecherner Musik und ohrenbetäubenden Nebengeräuschen. Handyqualität eben… Die stille, chillige Atmosphäre ist im Nu zerstört und in Gedanken übe ich mich in Toleranz und rede mir ein, dass es mir nichts ausmacht. Als nach dem ersten wirklich sehr langen Video ein zweites gestartet wird, werde ich etwas unruhig und überlege mir einen freundlichen, nicht allzu übergriffigen Satz…
„Scusi, non voglio essere scortese, ma il rumore del video mi disturba. Volevo rilassarmi e godere la tranquillitá, ma con questo rumore non è possibile.“ („Entschuldigung, ich möchte nicht unhöflich sein, aber der Lärm des Videos stört mich. Ich wollte mich entspannen und die Ruhe genießen, aber mit diesem Lärm ist mir das nicht möglich.“)
Der Chef entschuldigt sich ein wenig verlegen bei mir und der andere schaltet unverzüglich sein Handy aus. Die Dame vom Nebentisch bedankt sich bei mir, denn auch sie fühlte sich gestört. Ich finde die ganze Szenerie schon wieder lustig und schmunzle in mich hinein… Man muss jede Art der Kommunikation nutzen, denn auch so ergeben sich nette Bekanntschaften…









Ich komme mit dem Lokalbetreiber, Didi, 51, ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass er leidenschaftlicher Modellbauer ist und Miniatur-Trabocchis (Fischerpfahlbauten) herstellt und sammelt. Seine Frau ist, so wie ich, Sportlehrerin und bekommt manchmal von Schülern einige Werkstücke geschenkt. Als Werklehrerin bin ich natürlich voll aus dem Häuschen und schieße gefühlt tausend Fotos…














Ich bin entzückt von dem liebevoll dekorierten Lokal und kann garnicht aufhören zu fotografieren. Didi meint, ich solle unbedingt auch zum Strand gehen, um seinen Baumstamm anzuschauen…








Der angeschwemmte Baumstamm, die Strohschirme und die ganze Stimmung sind richtig cool und am liebsten würde ich einen Tag hier verbringen. Aber andererseits möchte ich auch meinen Weg fortsetzen… Didi zeigt mir seine FÜNF!!! Hunde, wir schießen noch ein Abschiedsfoto beim Eingang und ich bettle ihm einen Aschenbecher aus Afrika ab. Jetzt hab ich auch ein Andenken an die coolste Bar an der Riviera degli Abruzzi! Also, falls Ihr in der Nähe von Pescara seid, verpasst nicht den „Lido Urania“ und richtet bitte Didi einen lieben Gruß von mir aus!



Etwas weiter den Stiefel südwärts liegt der Badeort Francavilla al Mare, wo der Radweg endet und man auf die verkehrsreiche Straße Contrada Foro geleitet wird.




Bei der Ausfahrt treffe ich ein lustiges Trio: Zwei Rennrad- und einen Handbikefahrer, die meine Lebensretter sind… Die Contrada Foro ist eher schmal und ohne Pannenstreifen, sowie voll mit LKWs und schnellen Autos. Alleine würde ich mich da nie hinaus wagen. Die drei sorgen nicht nur für einen angenehmen Windschatten, sondern auch für einen Sicherheitsabstand zu den LKWs, denn der Handbikefahrer nimmt mit seinem Rad schon die halbe Fahrspur ein und somit kommen die Autos nicht so knapp zu mir heran. Mit schweißtreibenden 30 km/h überbrücke ich auf diese Art die gefürchteten 10 Kilometer bis Ortona. Kurz vor Ortona beim Lido Riccio verlasse ich die drei und zweige links ab. Leider gibt’s kein Foto von ihnen, da die Situation eher stressig ist und alles so schnell geht…
Südlich vom Lido Riccio gibt es eine schöne Aussichtsplattform, die ich mir natürlich nicht entgehen lasse…




In brütender Hitze überwinde ich einige Höhenmeter und erreiche bald Ortona. Nach oberflächlichem Kartenstudium und der blanken Angst im Nacken vor einem weiteren Horror-Abschnitt wie jenem auf der Contrada Foro, beschließe ich die Strecke von Ortona bis Vasto mit dem Zug zu fahren. Ein Fehler, wie sich erst Wochen später herausstellen wird…
Ortona








Der Zug bringt mich bis Porto Vasto, wo ich spontan im letzten Moment aus dem Zug springe, weil ich auf der Karte gesehen habe, dass sich das Naturschutzgebiet „Riserva Naturale Regionale Punta Aderci“ gleich in der Nähe befindet.



Nicht weit vom Bahnhof entfernt sehe ich auf hellen Schotterpisten Menschen, mit Sonnenschirmen und Badeutensilien ausgestattet, die zu den naturbelassenen Stränden von Punta Aderci pilgern. Ich bin froh, in dieser Affenhitze mit dem Rad unterwegs zu sein und düse an ihnen vorbei. Bei einer Aussichtsplattform lasse ich mich gerne mit dem darunter liegenden Trabocco fotografieren. Natürlich muss ich es mir auch von der Nähe ansehen und nütze die Gelegenheit für einen Sprung ins etwas zu warme Meer. Danach lerne ich Michelangelo (43) und Giuseppe (36), zwei Gravel-Biker aus Bari kennen, die in etwa die gleiche Strecke wie ich zurücklegen, nur in die Gegenrichtung. Wir plaudern ein wenig und setzen danach – jeder in seine Richtung – den Weg fort.










Etwa 10 Kilometer von Punta Aderci entfernt liegt die entzückende Stadt Vasto, wo ich die Nacht verbringen werde. Bevor ich mein Bed & Breakfast beziehe, verschaffe ich mir einen groben Überblick über die hoch über dem Meer gelegene Stadt. In weiser Voraussicht reserviere ich mir auch gleich einen Tisch auf der himmlischen Aussichtsterrasse „Belvedere della Madonna delle Grazie“.
Vasto
Vasto wurde vermutlich von einem dalmatischen Stamm gegründet. In römischer Zeit war es als Histonium bekannt, diesen Namen verlor es in den Unruhen nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs. Die Einwohner der Stadt werden als Vastesi oder auch Histoniensi bezeichnet (https://de.wikipedia.org/wiki/Vasto).
Unter Mussolini änderte die Stadt 1938 ihren Namen in Istonio, in Anlehnung an den römischen Ursprung der Stadt. Nach dem Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 errichtete das faschistische Regime in Istonio Marina (heute Vasto Marina) ein Internierungslager (campo di concentramento). Zu diesem Zweck standen zwei Gebäude zur Verfügung, ein nie fertiggebautes Hotel und ein privates Wohnhaus. Die Internierten waren vorwiegend politische Oppositionelle, vereinzelt auch in Ungnade gefallene Faschisten. Zahlreiche Insassen wurden strafverlegt, nachdem sie aus Protest gegen die Lebensmittelknappheit und die mangelhafte Qualität der Verpflegung in einen Hungerstreik getreten waren. Im Juni 1943 wurden 31 Internierte nach Farfa Sabina verlegt, um das dort vorgesehene Lager zu errichten. Nach dem Sturz des Faschismus lösten Jugoslawen aus den von Italien besetzten und annektierten Gebieten die politischen Gegner ab. Im September 1943 war das Lager noch in Betrieb. Die Befreiung der Stadt erfolgte am 5. November 1943 und 1944 wurde sie wieder in Vasto rückbenannt (https://de.wikipedia.org/wiki/Vasto).
Im Jahre 1956 wurde ein Teil eines der ältesten Viertel des historischen Zentrums von Vasto durch eine Reihe von Erdrutschen verwüstet. Dabei wurden etwa einhundertfünfzig Häuser zerstört, darunter einige öffentliche und religiöse Gebäude von beträchtlichem architektonischem Wert, unter anderem die Chiesa di San Pietro (https://de.wikipedia.org/wiki/Vasto).






Danach suche ich das in einer Seitengasse versteckte B&B „Palazzo Florio“, in dem es leider keinen Platz für mein Rad gibt. Die schusselige, aber umso sympathischere Eigentümerin Anita aus Finnland hat eine gute Idee: Sie kann mein Rad in ihrer Garage ganz unten am Fuße des Hügels deponieren. Mit dem Moped fährt sie mir voraus und zeigt mir den Weg. Ich habe ein Dé-jàvu… hatten wir das nicht schon einmal? Zurück zum Hotel komme ich hinten drauf auf der Vespa von Anita – mit Radhelm wohlgemerkt!! Die Finnin hat Umberto, einen Immobilienmakler aus Vasto geheiratet und vor zwei Jahren das Gebäude in schweißtreibender Arbeit restauriert und zu einem Hotel umgebaut. Sie hat viel Liebe und bestimmt auch eine Menge Geld hineingesteckt, aber die Arbeit und die Investition haben sich gelohnt. Das Hotel ist nicht ganz billig (115€/Nacht), aber auf jeden Fall zu empfehlen!

Mein Zimmer im Palazzo Florio ist sehr liebevoll eingerichtet und äußerst sauber. Für das Frühstück gibt es ein Formular, wo man die gewünschten Speisen und Getränke ankreuzen kann, die am darauf folgenden Morgen von Anita höchstpersönlich ins Zimmer serviert werden.







Frisch geduscht schlendere ich zum nicht weit entfernten Restaurant mit zauberhaftem Blick auf die „Spiaggia di Vasto Marina“. Als Vorspeise genehmige ich mir eine „Varietá di Pesce“ und als Primo Piatto „Troccoli alla Ventricina“. Ein herrlicher Gaumenschmaus mit Weinbegleitung!!





Als Abschluss des Tages mache ich noch das belebte „Centro storico“ mit seinen vielen netten Geschäften unsicher und kaufe mir ein langes, pink-rot-oranges Kleid, leider nur eine „Eintagsfliege“, wie sich am darauf folgenden Tag herausstellen wird…



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